Die türkische Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im europäischen Kontext


Die türkische Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im europäischen Kontext in Huberta von Voss, ed. Porträt einer Hoffnung Die Armenier. Lebensbilder aus aller Welt (Portraits of Hope: The Armenians. Pictures of Lives from all over the world). Berlin: Verlag Hans Schiler, 2004.
Von Taner Akçam

Das Europaparlament hat in verschiedenen Resolutionen den Genozid an den Armeniern anerkannt. Die erste und wichtigste war die “Zur politischen Lösung der armenischen Frage” vom 18. Juni 1987. Darin wurde die Anerkennung der historischen Ereignisse zu einer der Voraussetzungen für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union erhoben. Gleichzeitig wurde damit deutlich, dass es sich hier um keine rein historische, sondern um eine politische Frage handelt. Am 28. Februar 2002 bekräftigte das Europäische Parlament mit überwältigender Mehrheit in einer Resolution die Forderung, dass die Türkei den Völkermord anerkennen muss, bevor sie der EU beitreten kann. Diese Haltung wirft Fragen auf: Sollte die Anerkennung des Genozids eine Vorbedingung für die Aufnahme der Türkei, die sich mitten im Umbruch befindet, sein? Kann eine Demokratie ohne die Akzeptanz historischer Ereignisse aufgebaut werden? Was ist wichtiger: die Demokratisierung oder die Anerkennung der Geschichte? Hat die herrschende Elite überhaupt ein ehrliches Interesse an der Eigendynamik des Demokratisierungsprozesses, die durch das Ziel des EU-Beitritts in Gang gekommen ist? Oder sind ihr vielleicht insgeheim Hürden willkommen, die eine Demokratisierung bremsen, die unweigerlich zu einem Verlust ihrer Privilegien führen wird? Wir wollen im Folgenden versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu suchen.

Nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch fünfzehn andere nationale Parlamente haben seit 1965 Resolutionen, Beschlüsse oder Gesetze verabschiedet, in denen der Genozid an den Armeniern entsprechend der UNO-Völkermordskonvention von 1948 anerkannt wird. Darunter sind die USA (Repräsentantenhaus 1975) und Russland (Staatsduma 1995) sowie die Parlamente der EU-Staaten Griechenland (1996), Frankreich (1998/2001), Schweden (2000), Italien (2000) und Kanada (2004). Sie alle scheinen zu Kriegsschauplätzen des türkisch-armenischen Konflikts geworden zu sein. Wenn aber die EU den Genozid an den Armeniern für ein wichtiges Thema hält, dann sollte sie dies nicht nur im Parlament behandeln, sondern auch in anderen Foren und langfristige Konfliktlösungsstrategien entwerfen. Dabei muss die EU einsehen, dass es sich hierbie nicth nur um ein türkish-armenischen Problem handelt. Der Konflikt hat eine wesentliche Komponente: die Erweiterung der EU zum Nahen Osten und dem Kaukasus und stabilitaet und peace in die Region. Desewegen, EU sollte sich im Hinblick auf eine Lösung für eine verbesserte Zusammenarbeit beider Länder einsetzen. Es muss ein Kontext hergestellt werden, der eine produktive Konfrontation beider Parteien ermöglicht. Dies führt uns zum Thema der Konfliktlösung und der Rolle, die Dritte dabei sinnvoll spielen können.

Wie sieht der Konflikt von außen betrachtet aus?

Von außen betrachtet, gibt es zwei Parteien in dem türkisch-armenischen Konflikt. Auf der einen Seite ist der türkische Staat und seine nationalistische Wahrnehmung von Geschichte, die alle Überlegungen über das historische Umfeld des Ersten Weltkrieges ignoriert – ganz besonders den Genozid. Auf der anderen Seite ist der armenische Staat und die Diaspora. Sie haben ihre Darstellung der Ereignisse größtenteils in Reaktion auf die Version des türkischen Staates entwickelt. Beide Parteien scheinen einen politischen und psychologischen Krieg gegeneinander zu führen. Dabei gilt es, den Genozid entweder zu beweisen oder ihn zu widerlegen. Die armenische Diaspora und die junge Republik Armenien versuchen, mit Hilfe der Intervention von westlichen Mächten und der öffentlichen Meinung die Türkei zu einer Anerkennung des Genozids zu drängen. Die Türkei hingegen benutzt ihr regionales politisches und militärisches Gewicht, um Dritte genau davon abzuhalten. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass beide Kontrahenden die Geschichte als Waffe in ihren aktuellen Beziehungen einsetzen. Die historischen Ereignisse werden längst nicht mehr frei von Implikationen diskutiert. Vielmehr ist die Geschichte zu einem Instrument der aktuellen Debatte geworden.

Es ist offensichtlich, dass die türkische Position, die noch nicht einmal die Existenz eines historischen Problems anerkennt, das Entstehen der beiden Lager befördert hat. Darüber hinaus fühlt sich der türkische Staat stark genug, die Regeln der Diskussion festzulegen und negiert sogar sämtliche armenische Behauptungen hinsichtlich des Genozids. Aus diesem Grunde scheint für die Armenier der Druck von Dritten der einzige Ausweg zu sein.

Dass den Armeniern so viel an der Anerkennung des Genozids durch die Türkei liegt, hat vielfältige Gründe. Es ist allgemein bekannt, dass die Opfer einer solchen humanitären Katastrophe eine „zweite Traumatisierung“ erfahren, wenn ihr ursprünglicher Schmerz nicht anerkannt wird. Auch wird die Identität der Armenier von dem Leben in der Diaspora bedroht. In diesem Zusammenhang dient die Genoziderfahrung als Bindeglied, das die über die ganze Welt verstreuten Armenier zusammenhält. Der Genozid ist ein integraler Bestandteil der armenischen Identität geworden. Eines ihrer wesentlichen gemeinsamen Ziele wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte, die Unterstützung von Dritten im Kampf um die Anerkennung der Geschichte seitens der Türkei zu erhalten.

Die Türkei hat diese armenische Strategie wiederum mit einer Offensive beantwortet, bei der umfangreiche Ressourcen und die strategische Position in der Region dazu eingesetzt werden, um dieselben internationalen Organisationen von einer Anerkennung des Genozids abzuhalten. Zahlreiche Lobbygruppen und Ausgaben in Millionen Dollar-Höhe werden zielgerichtet eingesetzt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass beide Parteien eine Strategie zur Überzeugung Dritter entworfen haben. Die internationale öffentliche Meinung, Parlamente und andere Institutionen sind zu wesentlichen Arenen geworden, in denen der türkisch-armenische Konflikt ausgetragen wird. Die Frage sollte hier lauten: Kann dieser Konflikt durch die einseitige Überzeugung von Dritten entschieden werden? Hilft eine solche Strategie, das Problem zu lösen oder schafft sie lediglich weitere Probleme?

Die Vor- und Nachteile der einseitigen Überzeugung von Dritten

Man kann einige Vor- und Nachteile in der Strategie erkennen, die ausschließlich auf der einseitigen Überzeugung von Dritten beruht. Die Bestätigung des Genozids durch nationale Parlamente ist eine Art Ersatz für die fehlende Anerkennung durch die Türkei. Es ist darüber hinaus ein natürliches und demokratisches Recht der Diaspora-Armenier, sich als Bürger jener Länder dafür einzusetzen. Nur auf diese Weise können die Armenier die Debatte am Leben erhalten. Ohne dieses Bestreben wäre das Thema seit langem in Vergessenheit geraten. Die Tatsache, dass der Genozid in der Türkei nur diskutiert wird, wenn andere nationale Parlamente darüber diskutieren, ist dafür ein Beleg.

Die Diskussion dieses Themas in nationalen Parlamenten ruft in der Türkei eine gehörige Portion Wut und Hass gegenüber Dritten und den Armeniern im Allgemeinen hervor. Indessen setzt sich die Türkei aber auch nur unter diesen Umständen mit dem Thema auseinander. Dies ist leider auch die einzige Gelegenheit für innertürkische Kritiker, sich Gehör zu verschaffen, und für die armenische Gemeinschaft, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Ich bin der Auffassung, dass es trotz der negativen Reaktionen der Türkei auch positive Nebeneffekte gibt, denn immer mehr Türken beginnen, sich Fragen über die tatsächlichen Ereignisse zu stellen.

Ganz gleich wie überzeugend unsere Argumente gegen Resolutionen in anderen Parlamenten sein mögen, so sollten wir doch zugeben, dass nur durch sie die Debatten in der Türkei wach gehalten werden, solange sie dort im öffentlichen Raum nicht möglich sind. Der türkische Staat will mit diesem Thema in Wahrheit nicht behelligt werden und wendet sich auch aus diesem Grund gegen eine Behandlung des Themas in ausländischen Parlamenten. Deswegen bewegt viele armenische Kreise die große Sorge, dass das Thema in Vergessenheit gerät, wenn ausländische Parlamente nicht mehr als ein Forum der Diskussion genutzt werden. Das bisherige Verhalten der Türkei rechtfertigt diese Ängste der Armenier.

Unter diesen Umständen reicht es nicht aus, Resolutionen und die Einmischung von Dritten einfach abzulehnen. Es reicht nicht aus, gegen parlamentarische Beschlüsse zu toben und zu wüten. Vielmehr müssen alternative Formen und Foren der Diskussion angeboten werden. Solange nicht andere Foren entwickelt werden, in denen das Thema diskutiert werden kann, bleiben die parlamentarischen Resolutionen die einzig mögliche Zuflucht für die Armenier. Für mich ist nicht ausschlaggebend, ob Parlamente den Genozid anerkennen sollten oder nicht. Für mich ist die entscheidende Frage, wie solche Debatten im Hinblick auf eine Lösung des Konflikts an Bedeutung verlieren können und wie ein kostruktives Gesprächsklima entstehen kann. Dies wird nur gelingen, wenn die armenische Seite darauf vertraut, dass ihre Anliegen und ihre Trauer in einem anderen Forum in angemessener Form Berücksichtigung finden und nicht vergessen werden.

Andererseits ergeben sich auch einige Nachteile, wenn die Anerkennung des Genozids ausschließlich auf der Einbeziehung von Parlamenten und Dritten aufgebaut wird. Erstens sind beide Konfliktparteien bereit, denjenigen, die sie überzeugen wollen, unangemessene Vorteile einzuräumen, zumal diese niemals neutral sind und die Situation nicht losgelöst von Eigeninteresse erwägen. So sind Dritte dann auch geneigt, das Problem in den Dienst eigener Vorteile zu stellen – mit dem Ergebnis, dass solche Interventionen sowohl den Konflikt verlängern, als auch zusätzliche Probleme schaffen können. Der zweite Nachteil ist, dass die Kontrahenden sich die Fähigkeit absprechen, das Problem aus eigener Kraft zu lösen und auf diese Weise sich und anderen signalisieren, selbst Teil des Problems zu sein. Dies macht sie nicht nur durch Dritte verwundbar, sondern auch empfänglich für deren Ansprüche.

Die Strategie, Außenstehende in den Konflikt einzubeziehen, ist im Hinblick auf die finanziellen Mittel und den Aufwand kostenintensiv. Sie schafft zudem zusätzliche Probleme und bringt sich zuweilen selbst in Verruf. (Das beste Beispiel hierfür ist der Versuch der französischen Regierung, das Genozidthema zu instrumentalisieren, um der Türkei Hubschrauber zu verkaufen.) Ein weiterer, letzter Nachteil ist der Umstand, dass beide Seiten die gegnerische Partei als Feind darstellen müssen und auf diese Weise stereotype Bilder vertieft werden. All diese Nachteile führen zu einer Verschlechterung des Verhältnisses der Konfliktparteien.

Ich will hier nicht die Auffassung vertreten, eine Intervention von Dritten auszuschließen. Wann immer zwei Parteien ein Problem nicht aus eigner Kraft lösen können, ist die Einmischung von Dritten notwendig. Die eigentliche Frage ist deshalb, wie eine solche Intervention stattfinden sollte? So kann eine Vermittlung von Außen nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Konfliktparteien in das konstruktive Ziel des Vermittlers vertrauen. Die beiderseitige Billigung der Einmischung ist die Grundvoraussetzung für einen Vermittlungserfolg. Dieser bedingt den Entwurf eines Programms, das den Antagonisten dabei hilft, sich gegenseitig zu verstehen und konstruktiv mit ihren Problemen umzugehen. Dazu ist es im türkisch-armenischen Konflikt bislang nicht gekommen.

Was ist die Ursache des Problems?

Die Konfliktparteien sehen gemeinhin die Wurzel des Problems in der Uneinigkeit über die historischen Ereignisse. Aber dies trifft nur bis zu einem bestimmten Grad zu. Wenn es nur darum ginge, über Geschichte zu streiten, dann ließe sich leicht beweisen, was tatsächlich geschah. Es gibt genügend verfügbare Informationen in offiziellen und nicht-offiziellen Dokumenten. Allerdings existieren diese Dokumente in verschiedenen Sprachen und Bereichen. Was deshalb getan werden muss, ist sehr einfach: Es muss eine „Wahrheitskommission“ einberufen werden, die die historischen Dokumente sichtet. Sie müssen jedem zugänglich gemacht werden, damit eine offene und ernsthafte Debatte beginnen kann. Mit anderen Worten ist der erste Schritt, eine gemeinsame Wissensgrundlage zu schaffen.

Solche Ansätze hatten – besonders in der Türkei – nie Erfolg. Das deutet darauf hin, dass es auch jenseits des Zwistes über historische Ereignisse Probleme gibt. So ist die aktuelle Beziehung der beiden Parteien genauso wichtig – wenn nicht sogar noch wichtiger – als die Begebenheiten der Vergangenheit. Diese werden dazu benutzt, die voneinander bestehenden Bilder noch zu verstärken. Dieselben Argumente werden ständig wiedergekäut. Jede Seite ist lediglich daran interessiert, gegenüber der anderen Seite zu punkten oder mit neuem Material bereits bestehende Sichtweisen zu untermauern. Das bedeutet, dass sie beide Versöhnung verhindern und quasi ständig auf das „Trauma/Schuld-Konto“ erhöhen. Dieses wird für den nächsten argumentativen Waffengang eingesetzt.

Infolge dieses Verhaltens hat jede Seite ein sehr negatives Bild des Anderen entwickelt, auf das ständig Bezug genommen wird. Es ist eine allgemeine Regel, dass entmenschlichte Bilder des Anderen tief in der Mentalität gegnerischer ethnischer oder religiöser Gruppen verankert sind. Dies schließt den Glauben ein, dass die „andere Seite“ der Feind, hinterlistig, aggressiv, herzlos und unfähig zu einem positiven Wandel ist. Auch im türkisch-armenischen Konflikt ist das der Fall. Jede Gruppe hat ihre eigene Sprache entwickelt, um die Ereignisse von 1915 zu diskutieren – eine Sprache, die die Animositäten zwischen den beiden Seiten noch verschärft. Der darin konstruierte „Andere“ scheint einer Konfliktlösung im Weg zu stehen. Konfliktparteien haben in der Regel zwar eine differenzierte Selbstwahrnehmung, nehmen aber gleichzeitig den Anderen nur stereotyp war. Bevor sich diese Einstellungen, Gefühle, Verhaltensweisen und Mentalitäten nicht verändern, ist eine Lösung undenkbar.

Meiner Auffassung nach ist es notwendig, deutlich zu unterscheiden zwischen dem eigentlichen Problem und der Art und Weise, wie mit dem Problem umgegangen wird. Die bisherige Handhabung hat zusätzliche Schwierigkeiten geschaffen Eine spezifische Erschwernis liegt darin, dass wir uns auf Ereignisse beziehen, die fast einhundert Jahre zurückliegen. Warum halten die Kontrahenden – und dies gilt in besonderem Maße für den türkischen Staat – den Anderen für einen Feind, anstatt einer kooperativen Problemlösung eine Chance zu geben? Auch ein Jahrhundert später scheinen Beide in der psychologischen Verstrickung von 1915 gefangen zu sein.

Es gibt noch einen weiteren Grund für das Beharren auf monolithischen, stereotypen Bildern. Denn das Fortbestehen des Problems liegt eher im Interesse der Konfliktparteien als seine Lösung. In beiden Lagern haben besonders die nationalistischen Zirkel ihre Sichtweisen und ihre Identität im Gegensatz zu einem eingebildeten Feind herausgebildet. Im Falle der Türkei setzen die herrschenden Eliten ihre antiarmenische Haltung dazu ein, die nationale Identität der türkischen Gesellschaft zu stärken. Sollte der türkische Staat je seine Haltung gegenüber dem Genozid verändern, muss er seine gesamte nationale Geschichte umschreiben. Auch gewisse armenische Kreise profitieren von der Existenz eines Bildes, das die Türken als barbarisch und wild zeichnet. Sie erklären z.B. zuweilen die Neigung zum Völkermord aus vermeintlichen türkischen Erbanlagen. Mit anderen Worten: Auf beiden Seiten benutzen Nationalisten den Hass aufeinander, um ihre Nationen um sich herum zu versammeln.

Um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, muss die Parteilichkeit überwunden werden. Dies geht nur, wenn die Kontrahenden direkt miteinander ins Gespräch kommen, so dass sie ein zutreffendes Bild voneinander entwickeln können. Der erste Schritt zu einer Lösung des türkisch-armenischen Konfliktes besteht deshalb darin, das negative Stereotyp vom jeweils Anderen zu beseitigen. Den Vorurteilen muss die Legitimität durch das Angebot alternativer Informationen entzogen werden. Aus diesem Grunde ist es sehr wichtig, das öffentliche Bewusstsein einem Wandel zu unterziehen. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass tief verwurzelte politische Glaubenssysteme gegenüber Modifizierungen extrem resistent sind, besonders wenn sie durch eine intensive Opferpsychologie verstärkt werden. Die Lösung von lang währenden Konflikten muss immer bei einer Veränderung der Werturteile, die im Rahmen einer kollektiven Weltanschauung bestehen, und der damit einhergehenden Veränderung des öffentlichen Bewusstseins ansetzen.

Die türkische Gesellschaft ist kein Akteur im bestehenden Konflikt

Eine der wesentlichen Fragen, die sich daraus ergibt, ist: Warum hat die türkische Gesellschaft niemals Einwände gegen die offizielle Version der Ereignisse erhoben? Wo liegt der Ursprung der tiefen Kluft zwischen dem Staat und der Gesellschaft in der Türkei?

Die türkische Republik hat in weiten Teilen die Traditionen, die Politik und die administrativen Strukturen des Osmanischen Reiches geerbt. Anders als im Westen hat der osmanisch-türkische Modernisierungsprozess nicht zu einer Verbreiterung der Machtbasis geführt, die neuen Klassen und sozialen Gruppen Zugang gewährt hätte. Motor der Modernisierung war die herrschende Elite. Anstatt neuen Gruppen Zugang zur politischen Macht zu gewähren, passierte genau das Gegenteil. Der Übergang zur Republik hat weder die Strukturen der herrschenden Klassen noch ihren Einfluss wesentlich verändert.

Die osmanische Konzeption von Macht und die Staatsauffassung kommen von einer archaischen imperialen Tradition her. Nach dieser Auffassung legitimiert sich die Macht ausschließlich aus sich selbst heraus. Der Staat ist sakrosankt. Nicht die Nation hat einen Staat, sondern der Staat hat eine Nation. Nach dieser Philosophie ist der Staat von der Gesellschaft unabhängig und wird in Opposition zur Gesellschaft organisiert. Der Staat wird als Bollwerk gegen die Gefahren im Übergang vom untergehenden Reich zur entstehenden Republik begriffen. Wenn man die Türkei wirklich verstehen will, muss man den Staat als Bremse gegen den fortschreitenden Verfall des Reiches sehen. Die Idee der Bedrohung entstand in Reaktion auf folgende historische Ereignisse:

  1. Die Großmächte hatten im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder Pläne geschmiedet, das Osmanische Reich unter sich aufzuteilen.
  2. Als Reaktion auf den Niedergang entstanden panislamische und pantürkische Konzeptionen zur Rettung des Staatsgebildes. Diese Ideen wurden während des Ersten Weltkrieges mit der Niederlage des mit Deutschland kriegsalliierten Osmanischen Reiches Makulatur. Die Pläne zur territorialen Ausdehnung wurden abgelöst von der Angst vor der völligen Vernichtung.
  3. Einige Gruppen ethnischer Minderheiten, die im Osmanischen Reich lebten, betrieben ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Staat.
  4. Die Metapher vom “kranken Manns am Bosperus”, die im 19. Jahrhundert in Europa entstand, rief eine allgemeine soziale Psychose hervor, die im Abkommen von Sèvres (1920) Gestalt gewann. Nach diesem Vertrag sollte die Türkei zwischen den Großmächten aufgeteilt werden. Den Türken blieb nur mehr ein Rumpfstaat mit der Hauptstadt Istanbul übrig. Den Armeniern wurde auf dem Gebiet Ostanatoliens ein unabhängiger Staat versprochen. Der Vertrag von Sèvres wurde zwar nicht umgesetzt. Aber das Ergebnis war, dass der türkische Staat unter der Prämisse entstand, Anatolien vor seinen “Feinden“ schützen zu müssen. Auf diese Weise wurde das Konzept der „Bedrohung“ die Basis für die Legitimität der Republik.

Selbst heute noch leitet der Staat seine Legitimität von der Existenz innerer und äußerer „Feinde“ ab, denen unterstellt wird, ständig an der Zerstörung der Türkei zu arbeiten. So veröffentlicht z.B. der Nationale Sicherheitsrat, der das wichtigste Verfassungsorgan ist, regelmäßig „Schwarzbücher“, die die wichtigsten Bedrohungen des Staates gestaffelt nach ihrer Bedeutung auflisten. In der Türkei nennen wir diese Psychologie – die Angst vor der Teilung und die Angst, bedroht zu sein- das “Sèvres-Syndrom“.

Die Gründergeneration der türkischen Führer kam vor allem aus der Bürokratie und der Armee und war tief geprägt von militärischen Werten. Sie wollten eine homogene türkische Republik schaffen. Schon nach kurzer Zeit geriet dieses Projekt in Widerspruch zu den Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft mit der Folge, dass schon bald die Gesellschaft zu einem Hindernis für die Realisierung dieser Staatskonzeption wurde. Komplementär zum Begriff des „äußeren Feindes“ entstand so der des „inneren Feindes“. Um diesem keinen Einfluss auf das Geschehen zu geben, fanden die Gründerväter einen einfachen Ausweg: Sie leugneten die Existenz und verpönten die Diskussion über alle sozialen Gruppen, die ihren Plänen im Wege stehen könnten. Man könnte sagen, dass unsere Republik auf fünf Tabus aufgebaut ist:

  1. Es gibt keine sozialen und wirtschaftlichen Klassen in der Türkei.
  2. Es gibt keine Kurden in den Türkei. Kurden sind Bergtürken.
  3. Die Türkei ist ein westlicher Staat. Islamische Werte und Kultur haben deswegen keine Berechtigung.
  4. Der Genozid an den Armeniern hat nicht stattgefunden.
  5. Die Autorität und Wächterrolle des Militärs ist unantastbar.

Diese Tabus wurden zu den grundlegenden Prinzipien der Republik und in den Rang von Staatsdogmen erhoben. Mit anderen Worten: Der türkische Staat wurde auf der Leugnung seiner eigenen gesellschaftlichen Realität und der Existenz unterschiedlicher ethnisch-religiöser und kultureller Gruppen in der Gesellschaft aufgebaut. Diese Teile der Bevölkerung wurden als “Probleme” und “Bedrohungen” der Sicherheit der Republik begriffen. Die politischen Veränderungen haben das Tabu aufgehoben, über die Existenz dieser Gruppen zu diskutieren. Auch die Rolle des Militärs geriet auf den Prüfstand. Es ist deswegen kein Zufall, dass auch der Völkermord an den Armeniern ein wichtiges Thema auf der nationalen und internationalen Agenda geworden ist. Ohne Zweifel wird auch dieses Tabu eines Tages der Vergangenheit angehören. Aber es wird Zeit brauchen, da es ein besonders schmerzliches Thema für den türkischen Staat ist.

Beschreibt „Leugnung“ korrekt die Haltung der türkischen Gesellschaft?

“Leugnung” ist der in internationalen Kreisen übliche Begriff, um die Positionen von Staat und Gesellschaft in der Türkei im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern zu beschreiben. Im Hinblick auf den Habitus des Staates halte ich den Begriff für zutreffend. Die Haltung der Gesellschaft muss indessen anders beschrieben werden. Hier handelt es sich eher um Unwissen, Apathie und Schweigen.

Um dies zu verstehen, müssen wir den herrschenden Mangel an historischem Bewusstsein in der Türkei als gesellschaftliches Phänomen betrachten. Ich würde die Türkei als ein Land charakterisieren, das unter gesellschaftlicher Amnesie leidet. Die Unfähigkeit, sich der Vergangenheit zu erinnern, bezieht sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieges, sondern auch auf die Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre, die lange Zeit dem Vergessen anheim gestellt worden waren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst hat der türkische Staat wie jeder Nationalstaat in seinem Erziehungssystem eine nationalistische Geschichtsschreibung entwickelt. Dies hat zu einem historischen Unwissen geführt, das besonders spürbar bei der Übergangsphase vom Osmanischen Reich zur Republik wird. Die offizielle Überlieferung hat nicht nur den Völkermord an den Armeniern unbeachtet gelassen oder falsch dargestellt, sondern auch die Geschichte von anderen ethnischen und religiösen Minderheiten. Dies hat eine kollektive Amnesie zur Folge.
Dazu beigetragen hat auch die Reform des Alphabets im Jahre 1928, bei der die arabische Schrift zugunsten der lateinischen aufgegeben wurde. Das einfache türkische Volk wurde damit der Möglichkeit beraubt, Dokumente aus der Zeit vor 1928 zu lesen und damit diese Periode für sich zu erschließen. Die Reform und die sich anschließende Säuberung der Sprache gab dem türkischen Staat die Kontrolle über den Zugang der Gesellschaft zu ihrer eigenen Vergangenheit, indem nur noch jene Texte und Dokumente transkribiert wurden, die die Sicht des Staates untermauerten.

Zum Schweigen: Eines der wesentlichen Merkmale der Türkei ist es, dass sie über keine gemeinsame kollektive Identität verfügt. Vielmehr setzt sich diese aus einer Vielzahl von Identitäten von subethnischen und religiösen Gruppen zusammen.. All diese haben durch mündliche Überlieferung ihre eigenen Versionen von Geschichte entworfen.. Trotz aller bestehenden Unterschiede, lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten erkennen: Anders als im Nachkriegsdeutschland, wo der Holocaust mit einem „Wir-wussten-von-nichts“ verdrängt wurde, sprachen in der Türkei die einzelnen Gruppen offen über das Thema des Völkermordes an den Armeniern. Dabei fielen Sätze wie: „Sie haben es verdient“ ebenso wie: „Es hätte nicht passieren dürfen, wir schämen uns dafür“. Charakteristisch für diese sehr gegensätzlichen Haltungen war, dass sie nie in der Öffentlichkeit , sondern nur im Privaten geäußert wurden. Obwohl weite Kreise der türkischen Gesellschaft die staatliche Politik der Leugnung nicht teilen, stellten sie diese nie aktiv in Frage, sondern übernahmen sie in der Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Die Menschen äußern in der Öffentlichkeit völlig andere Positionen als im Privaten. Da es nicht erlaubt, sondern strafbar war, die staatliche Haltung öffentlich zu kritisieren, existieren parallel zueinander zwei Versionen: die aufgezwungene, öffentliche Version des Staates und die unterdrückte, private Version verschiedener Subgruppen.
Die Diskrepanz von einer offiziellen und privaten Geschichtstradition hat dazu geführt, dass die türkische Gesellschaft keinen wirklichen Zugang zu ihrer Vergangenheit hat. Deswegen konnten auch die „privaten Erinnerungen“ nicht aufgearbeitet werden. Die staatlich verordnete, nationalistische Betrachtung der Geschichte ließ außerdem die Geschichtsbilder der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen unberücksichtigt. Dem Staat ist es nicht gelungen ist, eine gemeinsame Identität der Gesellschaft zu schaffen. Die aufgezwungene Identität wurde jedoch von der Gesellschaft aus Unwissen, Geschichtsvergessenheit und Angst nie in Frage gestellt. Die Existenz von zwei fundamental sich widersprechenden Geschichtsbildern illustriert die schizophrene Haltung zum armenischen Genozid und anderen umstrittenen „Wahrheiten“ in der Türkei. Bislang hat die türkische Gesellschaft zur Klärung des türkisch-armenischen Konfliktes keinen Beitrag geleistet. Genau dies muss sich ändern. Solange die türkische Gesellschaft und die in ihr existierenden multiplen Geschichtsbilder keine aktive Rolle bei der Konfliktlösung spielen, wird dieser nicht beigelegt werden können. Deswegen wird es entscheidend darauf ankommen, Plattformen zu finden, auf den die türkische Gesellschaft ihre Positionen vertreten kann.

Was muss geschehen?

Beide Parteien müssen ein Konzept entwickelt, wie die Beziehung zueinander in Zukunft aussehen kann oder soll. Wenn es uns nicht gelingt, den historischen Konflikt mit einem Konzept für die Zukunft zu verbinden, wird uns keine Lösung gelingen. Versöhnung bedeutet, dass der Teufelskreis gegenseitiger Schuldzuweisungen durchbrochen wird, damit ein Gespräch möglich wird. Die Türkei und Armenien sind durch ihre regionale Nachbarschaft auf alle Zeit miteinander verbunden. Deswegen muss das zukünftige Verhältnis beider Staaten in dem Konzept berücksichtigt werden.

Beide Konfliktparteien müssen Gelegenheit bekommen, ihr Trauma, ihre Trauer, ihre Erinnerungen, aber auch ihre Selbstwahrnehmung zu artikulieren. Internationale Erfahrungen zeigen, dass Historiker- und Wahrheitskommissionen einen geeigneten Raum schaffen, um diesen Diskurs zu eröffnen. Ein gemeinsames Geschichtsbild muss geschaffen, unveröffentlichte Quellen müssen zugänglich gemacht werden. Doch der Mut zur Wahrheit alleine reicht nicht aus. Auch Gerechtigkeit alleine reicht nicht aus. Der Weg zu einem Neubeginn muss auch von Mitgefühl getragen werden. Ohne die Bitte um Vergebung und den Mut zu vergeben, wird es keine Versöhnung geben können.

Die Europäische Union sollte beginnen, ihre Vermittlerrolle in diesem Konflikt ernst zu nehmen. Bislang scheint sie sich nur kursorisch mit dem Problem befassen zu wollen. Europa muss verstehen, dass der türkisch-armenische Konflikt eine wesentliche Komponente der Erweiterung zum Nahen Osten und dem Kaukasus ist. Eine solche Rolle kann nur erfolgreich sein, wenn sie nicht konfrontativ angelegt ist, sondern die Konfliktparteien an einen Tisch bringt. Parlamentarische Resolutionen vermögen dies nicht zu leisten.